Warum wir alle irgendwie spirituell sind und weshalb du zu deiner eigenen Spiritualität stehen solltest.
„Als esoterisch möchte ich auf keinen Fall bezeichnet werden.“
In letzter Zeit habe ich mich immer öfters mit der Frage beschäftigt, worin eigentlich der Unterschied zwischen Spiritualität und Esoterik liegt. Dass ich eine spirituelle Einstellung zum Leben habe, das lässt sich nicht abstreiten. Trotzdem war tief in mir drinnen schon immer diese Scham, meine Spiritualität nach außen hin auszuleben. Denn als esoterisch möchte ich auf keinen Fall bezeichnet werden.
„Der Begriff „Esoterik“ hat einen sehr negativen Beigeschmack.“
Für mich persönlich implizierte der Begriff der Esoterik immer schon eine gewisse irrationale, nicht ernst zu nehmende Abgehobenheit. Doch auch Scharlatanerie, das schamlose emotionale und finanzielle Ausnutzen labiler Menschen assoziierte ich mit esoterischen Praktiken. Alles Dinge, von denen ich mich ganz explizit distanziere und mit denen ich mich selber überhaupt nicht identifizieren würde.
„Das, woran man selber glaubt, kommt einem nicht als abgehoben vor.“
Natürlich haben die meisten von sich selbst eine gute Meinung und würden sich weder als abgehoben, noch als Scharlatan bezeichnen. Denn alles, woran man selbst glaubt, kommt einem schließlich nicht als abgehoben vor. Auch Verschwörungstheoretiker*innen sehen sich selbst als rationale, aufgeklärte Personen. Sie glauben an Theorien, die ihrer Auffassung nach ganz einfach auf nicht abzustreitenden Tatsachen beruhen. Nicht sie selbst sind realitätsfern, sondern die restliche Gesellschaft lässt sich von irgendwelchen korrupten Autoritäten und manipulierten Wissenschaften in die Irre führen.
„Sich unvoreingenommen mit einem Thema zu beschäftigen, ist gar nicht so leicht.“
Was bedeutet das für meine Frage nach dem Unterschied zwischen Spiritualität und Esoterik? Es zeigt auf, wie schwer es ist, sich einem Thema objektiv zu nähern. Auch wenn ich versuche, unvoreingenommen zu sein, bin ich durch meine eigenen Erfahrungen, meine eigene Weltanschauung vorbelastet. Deswegen nähere ich mich der Thematik so, wie ich es damals auf der Uni in wissenschaftlichen Essais oft gemacht habe. Ich beginne mit offiziellen Definitionen. Im deutschsprachigen Raum darf also wieder einmal der Duden herhalten. Mag sein, dass man dort nicht die komplettesten Begriffserklärungen findet, doch es sind oft jene, die dem Alltagsgebrauch am nächsten kommen.
„Das ist aber ganz schön spirituell.“
Der Begriff der Spiritualität ist in der Tat, wie so vieles, zu einem Containerbegriff[1] geworden. Als ich auf der Suche nach einer Wohnung war, sagte ich nach dem zigsten Besichtigungstermin zu meinem Papa, dass die richtige Wohnung da draußen ist und wir sie früher oder später schon finden werden. Daraufhin meinte er „Das ist aber ganz schön spirituell.“
Der Unterschied zwischen Spiritualität und Esoterik
Was bedeutet denn nun Spiritualität?
Laut Duden bedeutet Spiritualität „Geistigkeit; inneres Leben, geistiges Wesen[2]“. In der Tat entstammt der Begriff der Spiritualität dem Christentum aus dem 18./19[3]. Jahrhundert, dehnte sich aber schnell über sämtliche Lebensbereiche aus[4] und hat sich somit aus dem religiösen Kontext emanzipiert. Man kann also durchaus spirituell sein, ohne einer bestimmten Religion anzugehören. Entscheidend ist, dass der spirituell eingestellte Mensch sich selbst nicht auf den eigenen Körper und den eigenen Geist reduziert. Er verspürt eine Verbundenheit mit seinen Mitmenschen, mit der Natur und mit dem Universum. Spiritualität wird dabei häufig sehr individuell erlebt und gelebt. Sie wirkt sich sowohl auf die eigenen Lebensführung als auch auf die ethischen Ansichten aus[5].
Sind wir alle spirituelle Wesen?
Der Psychologe Rudolf Sponsel definiert Spiritualität als bewusstes oder unbewusstes, ritualisiertes oder formloses Fühlen, Denken und Handeln rund um Themenkreise wie Anfang, Ende, Sinn und Wert der Welt, der Existenz und des Lebens.[6] Dieser Definition zufolge wäre wohl kaum jemand nicht spirituell. Denn wer hat sich nicht schon mal mit existentiellen Fragen rund um die eigene Existenz beschäftigt?
Gelebte Spiritualität – ein Ausdruck von Menschlichkeit?
Für den Dalai Lama gelten menschliche Werte wie Empathie, Zuwendung, Güte, Liebe und Freundlichkeit zu einer Grundform der Spiritualität. Indem der Mensch erkennt, dass er nicht unabhängig von seinen Mitmenschen, der Natur und dem Kosmos existiert, wächst in ihm ein gewisses Verantwortungsbewusstsein der „Außenwelt“ gegenüber.
„Wenn man seine spirituelle Praxis vertieft und den Schwerpunkt auf Mitgefühl und Weisheit setzt, begegnet man immer wieder dem Leiden anderer empfindungsfähiger Wesen. Und man entwickelt die Fähigkeit, es wahrzunehmen, darauf zu reagieren und tiefes Mitgefühl zu verspüren statt Apathie oder Ohnmacht.“[7]
Mit dieser Auffassung von Spiritualität resoniere ich persönlich sehr stark (mir ist bewusst, dass es den Begriff „resonieren“ in der deutschen Sprache nicht gibt, doch das englische Verb „to resonate“ drückt genau das aus, was ich empfinde). Wenn gelebte Spiritualität wirklich ein Ausdruck von Menschlichkeit ist, sollten wir uns dann nicht alle mit Stolz als spirituelle Wesen bezeichnen können? Wahrscheinlich immer noch nicht, weil eben die Abgrenzung zur negativ behafteten Esoterik nicht sehr klar ist.
Der Unterschied zwischen Spiritualität und Esoterik – Was versteht man also unter Esoterik?
Das Wort Esoterik stammt aus dem Altgriechischen und bedeutet etymologisch, dass etwas dem inneren Bereich angehört. Sprich, Aspekte oder philosophische Lehren, die lediglich einem kleinen begrenzten Kreis an Personen zugänglich sind.
Laut Duden ist Esoterik eine „weltanschauliche Bewegung, Strömung, die durch Heranziehung okkultistischer, anthroposophischer, metaphysischer u. a. Lehren und Praktiken auf die Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung des Menschen abzielt.“[8]
„Esoterische Praktiken sind gruselig.“
Das Adjektiv „okkultistisch“ vermag wahrscheinlich bei dem*der einen oder anderen Leser*in Gänsehaut und Ablehnung auslösen. Wieder ein Begriff, der negative, teilweise schauerliche Bilder im Kopf auslöst. Bei Okkult denke ich persönlich an gruselige, makabre Rituale – ein zusätzlicher Aspekt der Esoterik, von dem ich mich ganz klar abgrenzen möchte.
Esoterik – eine Grenzwissenschaft?
Doch der Duden definiert Esoterik auch als Grenzwissenschaft, also „eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Phänomenen, die dem rationalen Denken nicht zugänglich sind“. Ein bekanntes Beispiel hierfür wäre die Beschäftigung mit Nahtoderfahrungen. Synonyme für Grenzwissenschaft sind die Begriffe Parawissenschaft oder Pseudowissenschaft. Unter diese Oberbegriffe fallen sämtliche Theorien und Lehren, welche angeben, Ansprüche an Wissenschaftlichkeit zu erfüllen, ohne aber im Endeffekt den wissenschaftlichen Kriterien gerecht zu werden. Und ein Angriff auf die Wissenschaft ist, so der Standard Kolumnist Kreil, ein Angriff auf die Demokratie[9]. A propos Angriff auf die Demokratie…
Esoterik & Rechtsextremismus
Die ideologische Nähe zwischen Esoterik und Rechtsextremismus ist zwar ein Thema, über das man in einem separaten Beitrag stundenlang diskutieren könnte, sie sollte aber an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. Denn ein (sehr berechtigter) Grund, weshalb Esoterik einen starken negativen Beigeschmack hat, liegt wohl ohne Zweifel an den Überlappungen mancher esoterischer und rechtsextremer Strömungen. Eines unzähliger Beispiele ist die rassistische Adaption der fernöstlichen Karma- und Reinkarnationsvorstellung. Dadurch findet ein extrem gefährlicher Paradigmenwechsel statt. Der Mensch ist nicht mehr Opfer gesellschaftlicher Ungerechtigkeit, sondern seine ökonomischen und sozialen Lebensumstände sind lediglich das Produkt seiner früheren Lebensweise. Somit wird nicht nur das bereits bestehende Unglück eines Menschen erklärt, sondern sogar absichtlich herbeigeführtes Unrecht gegenüber einer ganzen Menschengruppe auf eine perfide Art legitimiert (siehe Holocaust). In diesem Sinne ist es kaum verwunderlich, dass das Wort „esoterisch“ in den Ohren vieler wie eine abgrundtiefe Beleidigung klingt.
Was bin ich denn nun – spirituell oder esoterisch?
Wie man unschwer erkennt, ist es gar nicht so leicht, Begriffe wie Spiritualität oder Esoterik genau zu definieren. Kein Wunder, denn Definitionen haben einen durchaus reduktionistischen Charakter. Auch sind beide Begriffe nicht immer klar voneinander abgrenzbar. Bin ich spirituell? Ganz klar, ja. Wie die meisten von uns. Bin ich esoterisch? Es fällt mir, aufgrund der oben genannten Merkmale und Assoziationen in Bezug auf die Esoterik, ziemlich schwer, zuzugeben. Aber scheinbar ja, ich bin auch esoterisch. Denn Reiki fällt, zumindest nach aktuellem Stand der Wissenschaft, immer noch in die Kategorie einer metaphysischen Praxis. Doch wären in diesem Sinne nicht alle Menschen, die religiöse Rituale praktizieren, und sei es nur ein einfaches Gebet, ebenfalls als esoterisch einzustufen?
Ist es schlecht, esoterisch zu sein?
Wie ich bereits ganz am Anfang deklariert habe, möchte ich eigentlich auf keinen Fall als esoterisch bezeichnet werden. Die Gründe dafür sollten mittlerweile einleuchtend sein. Doch am Ende zählt das, was wir in einen Begriff hineinlegen und es zählt vor allem das, was wir damit tun. Es ist wie die Metapher mit dem Hammer. Ich kann damit einen Nagel in die Wand schlagen und ein wunderschönes Bild aufhängen, das allen Betrachtenden den Alltag versüßt. Ich kann damit aber auch jemanden auf den Kopf hauen und sehr viel Elend herbeiführen. Genau so kann ich auch eine „Eso-Tante“ sein, die sich für das Gute einsetzen will, die allen Menschen (ganz egal welches Gender, welche Herkunft, welche religiöse Einstellung usw.) helfen will. Ich kann aber auch ein esoterisches Schwammerl sein. Und davon gibt es sicherlich mehr als genug.
Wann wird Esoterik gefährlich?
Vielleicht sollte ich den Ausdruck des esoterischen Schwammerls an dieser Stelle genauer definieren. Natürlich kann man gar nicht so leicht zwischen „Gut“ und „Schlecht“ unterscheiden und vieles spielt sich in einer Grauzone ab. Ich möchte an dieser Stelle auch nicht vorgeben, Richterin beider Seiten zu sein, sondern lediglich persönlich Stellung beziehen. Esoterik wird in meinen Augen gefährlich, sobald sie dogmatisch wird. Unter dogmatisch verstehe ich in diesem Kontext das unkritische Anbeten einer einzelnen bestimmten Persönlichkeit, das blinde Folgen eines sogenannten Gurus. Genauso gefährlich wird es, wenn Praktizierende scheinbar allgemeingültige Lösungen für jegliche medizinische Probleme parat haben. Das ist es, was ich anfänglich als schamloses emotionales und finanzielles Ausbeuten bezeichnet habe.
Energiearbeit hat durchaus ihre Berechtigung und natürlich auch ihren Preis. Aber sie existiert nicht unabhängig von der Medizin. Sie kann nicht im Alleinstatus Krebs heilen. Die Betonung liegt auf Alleinstatus, denn ich glaube durchaus daran, dass energetische Arbeit Körper, Geist und Seele heilen kann. Ich habe es an mir selbst und an anderen Menschen erlebt. Und ja ich weiß, dafür gibt es (noch) keine empirischen Beweise. Doch auch hier möchte ich darauf verweisen, dass das vehemente Ablehnen bisher unerklärter Phänomene und das sture Festhalten an nichts und nichts anderem als dem aktuellen wissenschaftlichen Stand genauso dogmatisch sein kann.
Der Unterschied zwischen Spiritualität und Esoterik – Zwischenfazit
Inwiefern sind wir jetzt schlauer als am Anfang? Worin liegt der Unterschied zwischen Spiritualität und Esoterik? Wir wissen jetzt, dass Spiritualität und Esoterik nicht immer klar auseinander zu halten sind. Dass wahrscheinlich mehr Menschen spirituell sind, als man meinen könnte. Wir wissen auch, dass die Esoterik zwar durchaus eine dunkle Vergangenheit (Stichwort Nationalsozialismus) und auch immer noch eine dunkle Gegenwart hat (Stichwort Rechtsextremismus; Scharlatanerie), sie dadurch aber nicht kategorisch als schlecht oder gefährlich einzustufen ist. Im Endeffekt ist sie wie eine Art Werkzeug, mit dem man Dinge reparieren oder eben kaputt machen kann. Zwischenfazit? Eine gesunde Portion Skepsis ist sicherlich nicht schädlich. Es kommt eben immer auf den Einzelfall an.
Sapere Aude! Habe Mut, dich deiner eigenen Spiritualität zu bedienen
Vielleicht ist es etwas pathetisch, an dieser Stelle auf Kant anzuspielen. Die Aufklärung und der mit ihr einhergehende Ausgang aus der eigenen Unmündigkeit ist ohne Zweifel eines der besten Dinge, die der Menschheit passieren konnten (wobei man an dieser Stelle über tatsächliche Umsetzung und etwaigen Aufholbedarf debattieren könnte). Allerdings kann man durchaus ein aufgeklärter, rationaler, an die Wissenschaft „glaubender“ Mensch sein, und trotzdem offen sein für mehr.
Man sollte sich nicht von den vorherrschenden Vorurteilen einschüchtern lassen und aufgrund jener die eigene Spiritualität nicht erforschen. Im Endeffekt wird die eigene Spiritualität wie wir gesehen haben, ganz individuell erlebt und gelebt. Wenn du merkst, dass dich die aktive Auseinandersetzung mit spirituellen Themen in deiner Selbstverwirklichung weiterbringt und dir als Mensch gut tut, dann möchte ich dich an dieser Stelle dazu ermutigen, deine eigene Spiritualität weiterhin zu erkunden! Denn spirituell zu sein heißt nicht, irrational und abgehoben zu sein. Es bedeutet nur, nicht dogmatisch, sondern offen zu sein. In diesem Sinne:
Lasst uns die Welt wieder undogmatisch verzaubern!
Grundgedanken – Unterschied zwischen Spiritualität und Esoterik
- Spiritualität ist nicht an eine Religion gebunden.
- Spiritualität wird individuell erlebt und beeinflusst die eigenen ethischen Grundsätze und Lebensführung.
- Der spirituell eingestellte Mensch reduziert sich selbst nicht auf den eigenen Körper und den eigenen Geist.
- Der Dalai Lama sieht in den menschlichen Werten wie der Empathie einer Grundform von Spiritualität.
- Vielleicht sind wir alle irgendwie ein bisschen spirituell.
- Esoterik bedeutet eigentlich „dem inneren Bereich angehörig“.
- Esoterische Lehren und Praktiken zielen auf die Selbsterkenntnis und Selbstverwirklichung des Menschen ab.
- Die Esoterik ist eine Grenzwissenschaft, sie beschäftigt sich mit Phänomenen, die dem rationalen Denken nicht zugänglich sind.
- Esoterische Praktiken und Lehren finden sich auch in manchen rechtsextremen Strömungen.
- Esoterik an sich ist nicht gut oder schlecht, sondern die Art, wie sie praktiziert wird.
- Du kannst rational und gleichzeitig spirituell sein.
- Wenn du merkst, dass dir die Beschäftigung mit spirituellen Themen gut tun, dann traue dich, deine eigene Spiritualität tiefgründiger zu erkunden!
Quellen
[1] Rutishauser, C. M. (2017). Der Geist Gottes wird im Lärm der vielen Geister nicht mehr gehört. Neue Zürcher Zeitung. Retrieved March 11, 2022, from https://www.nzz.ch/meinung/religion-und-spiritualitaet-der-geist-gottes-wird-im-laerm-der-vielen-geister-nicht-mehr-gehoert-ld.1302638?reduced=true
[2] Spiritualität. Duden. (2022). Retrieved March 11, 2022, from https://www.duden.de/rechtschreibung/Spiritualitaet
[3] Baier, K. Unterwegs zu einem anthropologischen Begriff der Spiritualität. In: Baier, K., & Sikovits, J. (2006). Spiritualität und moderne Lebenswelt. Wien / Berlin: Lit Verlag.
[4] Bucher, A. (2007). Psychologie der Spiritualität. Basel: Beltz.
[5] Büssing. (2006). Spiritualität, Krankheit und Heilung – Bedeutung und Ausdrucksformen der Spiritualität in der Medizin : Referate einer Tagung im Oktober 2005 in Arlesheim. VAS, Verl. für Akad. Schriften.
[6] Sponsel, S. (2006). Spiritualität – Eine psychologische Untersuchung. https://www.sgipt.org/wisms/gb/spirit0.htm
[7] Neundorfer, G. (2020). Im Einklang mit der Welt: Weisheiten des Dalai Lama. München: Pattloch.
[8] Esoterik. Duden. (2022). Retrieved March 11, 2022, from https://www.duden.de/rechtschreibung/Esoterik
[9] Kreil, C. (2021). Fakemedizin. Falsche Heilversprechen skrupelloser Ärzte und gerissener Gurus. München: Komplett-Media.